Das gläserne Verbrechen – Netflix-Doku „The Perfect Neighbor“ zeigt den Weg zu einem Mord

Die ältliche weiße Frau nennt sich selbst die „perfekte Nachbarin“, was den Titel der Doku ironisiert, weil sie von den Anwohnern ihrer Straße in Ocala im Marion County tatsächlich als das genaue Gegenteil empfunden wurde. Die damals 58-jährige Susan Louise Lorincz störte den sozialen Frieden der Siedlung, in die sie wenige Jahre zuvor gezogen war, mit ständigen Beschwerden über Kinder, die auf ihrem Grundstück lärmten, spielten und angeblich sie und ihr Eigentum bedrohten. Lornicz war eher die perfekte Nervensäge.
Dann wurde sie die Mörderin von nebenan, schoss am 2. Juni 2023 durch die geschlossene Haustür ihrer Wohnung auf ihre Nachbarin, die wegen neuerlichen Streits energisch Einlass gefordert hatte. Die 35-jährige Ajike „A.J.“ Shantrell Owens, schwarze Mutter von vier Kindern, starb noch am selben Abend in dem Krankenhaus, in das man sie eingeliefert hatte. Lorincz versicherte den Beamten, Angst um ihr Leben gehabt zu haben.
Eine Doku aus Material von Bodycams und ÜberwachungskamerasDie Filmemacherin und Emmy-Gewinnerin Geeta Gandbhir dokumentiert mit ihrem Film diese Eskalation – von einer Polizeivisite im Februar 2022 bis zur Bluttat. Die Verhöre werden einbezogen, im Abspann sieht man noch das Essentielle des Prozesses.
Dafür erhielt Gandbhir beim diesjährigen Sundance-Festival den Regiepreis im Sektor Dokumentation und Netflix sicherte sich umgehend die Rechte an diesem sehr ungewöhnlichen Streifen, der jetzt zum Publikums- und Kritikerhit wurde. Fast das ganze Material von „The Perfect Neighbor“ entstammt den Bodycams von Polizisten sowie von Kameras an Lorincz‘ Haus und Aufnahmen aus dem Verhörraum.

Nur Bilder von Protesten, von der Trauerfeier für Owens und aus dem Gerichtssaal sind anderen Ursprungs. Es ist eine Nulldistanz-Doku ohne Kommentar. Subjektiv ist höchstens der Schnitt des Materials, das von diversen Bodycams und damit Perspektiven stammt, also wie ein Filmdrama wirkt, dessen Szenen von verschiedenen Kameras aufgenommen werden.
Dass Gandbhirs Schwägerin das Opfer kannte, bleibt im Film seltsamerweise unerwähnt, machte dies den Job laut der Regisseurin doch„zutiefst persönlich“.
So hört und sieht man die Kinder der Umgebung, wie sie auf der Straße und neben Lorincz‘ Haus spielen. Das Grundstück gehört gar nicht zu ihrem Anwesen, der Eigentümer habe den Kindern das Betreten der Wiese erlaubt, heißt es. Und nichts an der Lautstärke oder dem Verhalten der Spielenden ist ungebührlich. Die vornehmlich (aber nicht nur) weißen Beamtinnen und Beamten mahnen wiederholt alle Beteiligten zu Achtsamkeit und Rücksicht, äußern immer wieder Verständnis für beide Seiten.
Der Film thrillt, hat etwas Unheimliches, gerade, weil man von der ersten Minute an genau weiß, was passieren wird und dieses Passierende etwas Endgültiges ist. Und weil der Film auch das Schwelen des Rassismus in Amerika zeigt. Lorincz, die im Verhör damit konfrontiert wird, das „N“-Wort verwendet zu haben, streitet dies zunächst ab, dann räumt sie ein, das könnte passiert sein.
Schließlich sei sie damit aufgewachsen, dass dieses Wort für unangenehme Menschen verwendet werde. Unabhängig von der Hautfarbe?

Nur einen banalen Satz schreibt sie auf, als ihr die Verhörenden die Gelegenheit für eine schriftliche Entschuldigung bei Owens‘ Familie geben. Schließlich ordnet der Sheriff ihre Verhaftung an. Denn die Kamera am Haus beweist, dass Owens unbewaffnet war, dass keine Lebensgefahr bestand. Und zwischen Lorincz’ erstem und zweiten Telefonat, dem Notruf, laut sekundengenauer Aufzeichnungen nicht die von ihr angegebenen zehn sondern nur zwei Minuten vergangen waren.
Lorincz wusste, dass eine Polizeistreife unterwegs war. Und in ihrem Computer fand sich der Nachweis, dass sie sich über das „Stand Your Ground (Behaupte dich)“-Gesetz in Florida informiert hatte. Das im Grunde die Frage beantwortet: Wann komme ich mit einer Tötung davon?
Florida war der erste Staat, der 2005 ein solches Gesetz verabschiedete. Im Februar 2012 geriet die Regelung unter landesweite Kritik, als der 17-jährige Schüler Trayvon Martin in Florida auf dem Heimweg von einem Wachmann erschossen wurde. Der erst nach Protesten vor Gericht kam und von einer Jury freigesprochen wurde.
Diese Selbstverteidigungsgesetze sind inzwischen in mehr als 30 US-Bundesstaaten Teil der Gesetzgebung, unterscheiden sich aber von Staat zu Staat. In vielen Bundesstaaten gilt diese Aufhebung jeder Rückzugspflicht nur auf dem eigenen Grundstück oder am Arbeitsplatz. In Florida ist „Stand Your Ground“ dagegen an jedem Ort möglich. In manchen Staaten muss detailliert begründet werden, warum die zur Verteidigung angewendete Gewalt verhältnismäßig gewesen sein soll.
Gegner nennen sie „Erst schießen, dann denken“-Gesetze. Die Konstellation „weißer Schütze - schwarzes Opfer” ist dabei viermal so häufig. Im Fall von Susan Lorincz griff „Stand Your Ground“ nicht, sie wurde im August 2024 zu 25 Jahren Haft verurteilt. Weil alles, selbst die Mordabsicht, digital dokumentiert war.
Und so ist „The Perfect Neighbor“ auch ein Film, der den Stand der Überwachungsgesellschaft zeigt.
„The Perfect Neighbor“, Dokumentarfilm, 93 Minuten, Regie: Geeta Gandbhir (streambar bei Netflix)
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